Die Strassenhunde bellen und wir finden uns Anfang April hinter dem Tellerrand Europas wieder. Armenien und Georgien: Zwei Länder eingebettet zwischen Asien und Europa, zwischen Kaukasus und Ararat, zwischen Aufbruch und Tradition.
36 Tage lang sind wir hier unterwegs und begegnen in den beiden ältesten christlichen Ländern der Welt hauptsächlich frühchristlichen Bauwerken, jahrhundertealten Kirchen und Klöster. Die Kirche spielt eine wichtige Rolle im Alltag der Georgier und hat als Institution einen grossen Einfluss. Es wirkt, als würden die Menschen nach dem Zerfall der Sowjetunion erst recht Orientierung und Halt suchen. Auffallend sind dabei die grosse Zahl neuer oder neu-renovierter Kirchen. Jeder, der etwas auf sich hält und es sich leisten kann, “spendet” ein neues Gotteshaus. Wer eine Kirche betritt - Frauen mit Kopftuch ist Pflicht - sieht sich mit zahlreichen Fresken und Ikonen konfrontiert. Die Stimmung ist andächtig. Männer zünden auf dem Weg zur Arbeit Kerzen an, Frauen bekreuzigen sich, halten vor jeder grossen goldenen Ikonen kurz inne, damit auch keiner der Heiligen vergessen geht. Das orthodoxe Christentum ist - trotz 70 Jahre UdSSR - aus dem Alltag der Menschen hier nicht wegzudenken.
Die Georgier gelten als grosse Erzähler und ihr Selbstverständnis ist bemerkenswert. Sie erzählen mit Vorliebe folgende Legende: “Als Gott die Erde erschaffen hatte und für die Verteilung der Länder alle Völker zusammen kamen, fehlten die Georgier. Sie tranken und sangen und erschienen erst später - fröhlich, singend - als die Verteilung bereits beendet war. Doch Gott war von ihrer Lebensfreude so gerührt, dass er ein Einsehen hatte und den Georgiern jenes Stück Land gab, das er eigentlich für sich reserviert hatte.”
Bis heute spürt man diese Mentalität und das Gefühl des Auserwählt Seins - und ihren Hang zur Übertreibung. Später auf unserer Reise lernen wir, dass praktisch alles Gute auf der Welt, irgendwann in Georgien erfunden wurde - der Wein sowieso. Unser Guide geht noch weiter: “Wir sind das einzige Volk mit absolut reinem Blut. Wir haben uns niemals mit anderen Völkern vermischt”, rezitiert er mit ernster Mine eine angeblich kürzlich durchgeführte Studie. Wahrheit und Realität vermischen sich in Georgien wie Alt und Neu zu einem wirren Durcheinander. Dieser Kontrast ist bezeichnend für das Land.
Hin und hergerissen zwischen Asien und Europa spürt man diese Zerrissenheit auch in der Bevölkerung und in den politischen Debatten. Soll sich das patriarchalisch geprägte Georgien der Europäischen Gemeinschaft anschliessen oder doch enger mit anderen ehemaligen Sowjetstaaten in den Armen Russlands bleiben, das Georgien nach wie vor als sein Einflussgebiet betrachtet?
Ähnlich mürrisch wie die Georgier wirken auch die Armenier - was durchaus dem schlechten Wetter zugeschrieben werden könnte. Dick eingepackt blicken sie gelangweilt aus ihren Lada Nivas, die sich tapfer auf fürchterlich schlechten Strassen behaupten. Dazwischen erinnern Häuser-Ruinen, vernachlässigte Plattenbauten und verlassene Industriegebiete an bewegenden Epochen und alte Sowjetzeiten. Wir fahren über Dilidschan und den Sewansee nach Jerewan. Jerewan - eine Stadt, ein Begriff, der eng mit den Pannen des Sozialismus verbunden sind. Die Witze von “Radio Jerewan” gingen lange um die Welt. Hier wurden die Witze erfunden, basierend auf scheinbar naive Fragen aus dem Volk. Beispiel: Frage an Radio Jerewan: “Kann man in der Sowjetunion sein Leben in vollen Zügen geniessen?” Die Antwort: “Im Prinzip ja, aber es kommt auf die Bahnstrecke an” (gallery: Radio-Jerewan-Witze).
Armenien ist auch Ararat. Der heilige Berg ist 5137m hoch und dient als biblischer Mythos - hier soll Noah mit seiner Arche gelandet sein. An seinem Fuss liegt auch das Kloster, welches Armeniens Wiege der Christianisierung darstellt. Der Ararat ist der heilige Berg, doch die Armenier können ihn nur anschauen. Seit 1921 beansprucht die Türkei das Gebirge für sich und nennt ihn “Schmerzensberg”. Schmerzen bereitet diese Situation indes für die Armenier. Für sie ist der Berg heilig und manch einer träumt davon, oben die Armenische Flagge zu hissen. Doch die Türkei hat die armenische Seite gesperrt und für eine Besteigung des Gipfels in diesem militärischen Sperrgebiet benötigt man ein Sondervisum. Wir wollen einen Blick auf diesen Berg werfen und nach mehreren Tagen und der Tatsache, dass an rund 300 Tagen im Jahr Nebel den mächtigen vergletscherten Vulkankegel umhüllt, wollen wir aufgeben. Zu früh, denn am letzten Tag erhaschen wir aus der Fernen einen kurzen Blick auf die weissen Flanken des Berges - und sind versöhnt.
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